Boston, Charleston,
Swing und Harlem-Jump
(Text von Dieter Klein, Münster)

 
 
Neue Tanzhaltung sorgt für Aufregung

Die Tanzneuheit im Jahre 1905 heißt Boston. Eine der größten Städte Amerikas gab dieser Bewegungsform ihren Namen. Außer tiefen Ausfallschritten, die mindestens die Waden der Damen blitzen ließen, und geschickt eingebauten Verzögerungen ist eine fast skandalöse Grundhaltung das Charakteristikum dieses Tanzes: "Der Tänzer preßt beide Hände auf den Rücken der Dame, dicht unter den Schulterblättern. Sie legte ihre Finger an die beiden Seiten seines hohen Stehkragens. Dann glitt das Paar auf dem Parkettboden dahin und beugte die Knie von Zeit zu Zeit so tief, daß sie beinahe den Erdboden berührten. Dabei fiel langsam der Kopf der Tänzerin auf die Brust des Tänzers." [EICHSTEDT/ POLSTER]
Fast zur gleichen Zeit tanzt man zur Ragtime-Musik den Two-Step. Es ist der Beginn einer regelrechten Welle von Steptänzen (nicht zu verwechseln mit Tapdance). Der ungeheure gesellschaftliche Reichtum forciert durch eine immense Rüstungsproduktion, reicht bis in die Mittelschichten; die Anzahl der Vergnügungsstätten, Tanzlokalen und Cabarets wächst. Der Two-Step wird zum One-Step vereinfacht - Tanzen wie Spazierengehen. In Deutschland wird dafür die Bezeichnung Schieber geprägt. Im Schein des elektrischen Lichtes bestimmt er das tänzerische Nachtleben in unseren Großstädten. "Man glaubt zu schieben - und wird selbst geschoben". Die Tanzlehrer lehnen diese Art von Tanzhaltung ab: das Hin und Her bringe keinen zwischen den Partnern liegenden Schwerpunkt hervor, sondern werfe ihn abwechselnd von dem einen zum anderen. Man spricht empört von Distanzvernichtung zwischen den Tanzpartnern. Aber die hautnahe Tanzhaltung setzt sich durch - nicht nur aus tanztechnischen Gründen. Aus diesen unsentimentalen Step-Tänzen spricht der Geist des Fortschritts. Die Bewegungen sind nicht bis in alle Einzelheiten festgelegt. Einfallsreiche Variationen aus den Grundschritten heraus lassen neue Tanzformen entstehen: Turkey-Trot, Lambeth-Walk, Grizzly Bear, Bunny Hug, Peacock-Glide, Fish Tail, Cat Step, Bullfrog Hop ... "Unversehens war ein Wesenszug der schwarzen Kultur im Salon gelandet: Die Schwarzen auf den Plantagen hatten nämlich seit jeher nicht nur - wie beim Cakewalk - die Bewegungen ihrer Herrschaften, sondern auch die der Tiere panthomimisch gestaltet." [EICHSTEDT/POLSTER]
 

"Schwarze" Kultur auf dem Vormarsch

Im Jahre 1917, mit dem Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg, werden die Vergnügungsviertel in New Orleans (Storyville) geschlossen und die Musiker der Nachtbars ziehen nach Chicago oder New York. Minton's Playhouse in Harlem wird zur 'Keimzelle' des Jazz. Jedoch werden bis 1920 keine Schallplattenaufnahmen von schwarzen Jazzbands gemacht. [VENTURA]
Im industrialisierten Norden der Vereinigten Staaten steigt der Bedarf an ungelernten, billigen Arbeitskräften infolge des Krieges und der Einführung der Fließbandarbeit. Angelockt durch die Hoffnung auf die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen beginnt eine massive Nordwanderung der Schwarzen aus den Südstaaten. Züge sind dabei das wichtigste Transportmittel; und in den Texten des Blues tauchen sie immer wieder auf. "Mit den schwarzen Arbeitern kamen ländliche Bluesleute in dieStädte" [BERENDT]. Der Blues etabliert sich als lebendige Folklore der Afro-Amerikaner, als Weitergabe ihrer Traditionen, Lebensbedingungen, Wanderungen, Sehnsüchte und Nöte. Als harmonisches Begleitinstrument gesellt sich zunächst das Banjo später die Gitarre zum Blues. Der (schwarze) Steptanz (tapdance) wird zum Tanz des amerikanischen Showgeschäfts. Der 'natürliche Sinn für Rhythmus' ist den Schwarzen eigen - sie sind der Körper, potent, sexy und sportlich; die Weißen verkörpern das Bewußtsein, eine ´geistvolle´ Zurückhaltung vom ´tierischen Inneren´. Schwarz wird immer bedeutungsvoller in der Unterhaltungsindustrie: "Musik, Tanz, Mode, Körpersprache und Sprache, alles war schwarz wie Schuhcreme." [VENTURA] 
- Zur gleichen Zeit erfährt der Ku Klux Klan neue Belebung und die Städte im Norden erleben ihre ersten Rassenunruhen. -
 

Die goldenen 20er Jahre

In den 20er-Jahren öffnen in Harlem Kabaretts, Nacht- und Tanzlokale. Die besten Jazzmusiker des Landes geben hier Konzerte. Die Weißen finden es schick, in den anrüchigen Ghetto-Lokalen zu verkehren. CharlestonDer Charleston, ursprünglich von Schwarzen getanzte Groteskbewegungen, wird zum Gesellschaftstanz der Weißen und tänzerisches Charakteristikum der 'Goldenen 20er-Jahre' (und überdauerte die Weltwirtschaftskrise 1929). Joséfine Baker bringt diesen Tanz nur mit Bananenröckchen bekleidet 1925 auf europäische Bühnen ('Ausgerechnet Bananen ...'). "Dieser Tanz ist der Triumph der Geilheit, die Rückkehr zu den Sitten der Urzeit". In seiner Urform ist der Charleston als eine "komplizierte Überlagerung an sich widersprüchlicher Bewegungen" anzusehen.
Mit beherztem Einsatz von Hüften, Hintern und Beinen wird er meist von Paaren getrennt getanzt, einander gegenüberstehend ohne sich zu berühren, wie sein Vorläufer der Shimmy. Von der ursprünglich schwer tanzbaren Ausdrucksform verliert der Charleston auf seinem Weg zum Gesellschaftstanz die komplizierten Hüftbewegungen. Es bleiben die "Scheibenwischerfüße" als typisches Merkmal. "Der Torso zittert, dazu Bewegungen der Hüften, Schenkel und Hinterbacken. Auch die Hände sind aktiv, sie berühren alle Teile des Körpers wie in Ekstase. Dazu kommen die abwechselnden X- und O-Beine, damit verbunden die nach außen und innen verdrehten Knie und Füße. Der Tänzer kann seinen Rücken beugen oder gar in Hockstellung gehen" [Zitate aus: EICHSTEDT/POLSTER]
Die Veranstalter fühlen sich geradezu gesellschaftlich verpflichtet, die wildesten Tänze/Tänzer auf ihre Tanzplatformen zu bringen. Man spricht von schwarzen Jazztänzen wie z.B. dem Heebie-Jeebie oder Itch ('Krätze') mit stark schlenkernden Armbewegungen.
Als Weiterentwicklung folgt etwa im Jahre 1926 der Black Bottom. Er greift die verlorengegangenen Elemente wie das Herausstrecken des Hinterteils und die stark betonten Hüftbewegungen wieder auf, was sich in seinem Namen widerspiegelt: schwarzer Hintern. Die durchaus eindeutige Symbolik des Black Bottom ist nicht als aufgesetzte Frivolität anzusehen, sondern als offenes sexuelles Ausdrucksmittel im afro-amerikanischen Jazztanz. Dem Becken (pelvis) kommt dabei als Zentrum der Beweglichkeit und Vitalität eine besondere Bedeutung zu (allerdings auch hinsichtlich ablehnender Kritik - vgl. später: Elvis the pelvis). Black Bottom wird auf Bluesmusik getanzt.
Eine der bekanntesten Sängerinnen ist Gertrude Pridget 'Ma' Rainey. In der Jazzgeschichte ist sie als Mutter des Blues anerkannt. Mit zahlreichen Interpretationen bringt sie mit dem Blues die schwarze Südstaaten-Mentalität vor ein breites Publikum. Ma Rainey's Black Bottom ist auch ein Synonym für die geografische Lage ihrer Heimat Georgia (Talsenke mit schwarzer Bevölkerung).
 

Ballrooms

In den 20er-Jahren hat der Jazz den Ragtime verdrängt. Harlem ist die Hochburg des Jazz und die Heimat des Swing. "Ballrooms" sind die Schmelztiegel afroamerikanischer Bewegungsstile und Treffpunkte für Spielernaturen des Tanzes. Der Savoy-Ballroom erlangt die höchste Popularität. Alle namhaften schwarzen Big-Bands der Swing-Ära treten hier auf. Mit 'Stomping at the Savoy' erhält dieses Lokal von Chick Webb sogar eine eigene Hymne und wird zum 'Home of happy feet'.
"Das Savoy war ein Tanzsaal, der keine andere Show bot als die, welche die Tänzer - sie galten als die besten der Welt - selbst boten." [BERENDT] In dieser Atmosphäre unbändiger Lebendigkeit entsteht Ende der 20er-Jahre ein ganz neuer, großstädtischer Jazztanz: der Harlem Jump. Es ist eine Weiterentwicklung des Swing. (In den 40er-Jahren Rhythm and Blues (R&B) genannt und später zum Rock'n'Roll (R&R)).
 

Zitatquellen / Literaturhinweise :

Ventura, Michael: Vom Voodoo zum Walkman,
W.Pieper's Medienexperimente, Löhrbach, Der Grüne Zweig 134

Eichstedt,A. / Polster B.: Wie die Wilden - Tänze der Höhe ihrer Zeit,
Rothbuch Verlag

Morgan, Th.L. / Barlow, W.: From Cakewalks to Concert Halls,
Elliott & Clark, Washington, 1992

Berendt, Joachin-Ernst: Die Story des Jazz,
RoRoRo Sachbuch 7121, 1994

Bildquellen: 
- Karikaturen aus:  Eichstedt, A. / Polster, B.: Wie die Wilden - Tänze der Höhe ihrer Zeit, Berlin 1985, S. 20 f.
- Tanzpaar aus: Arie van der Lemme, Art Deco - eine aufregende Bewegung,  London 1986, S. 22


 
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