Vom "middle-of-the-road-pop"
zum Jazz
Die amerikanische Sängerin Mary Ann McCall
wurde am 4. Mai 1919 in Philadelphia/Pennsylvania geboren. Sie gilt als
eine der wenigen Pop-Vokalistinnen, "die Jazzformat entwickeln und die
ihre Stimme als Instrument einsetzen konnten" (Hazel Scott). Der britische
Jazz-Publizist Scott Yanow urteilt: "Sie begann mit middle-of-the-road-pop
und wuchs zu einer anerkannten Jazz-Sängerin heran." Kritiker George
T. Simon meinte: "Eine gute jazzbeeinflusste Sängerin". Kritiker Dave
Nathan hat bei ihr starken Billie Holiday-Einfluß festgestellt. Sie
habe sich von einer der besseren "Girl-Sängerinnen" der Big Band Szene
zu einer führenden Jazzsängerin entwickelt. Der deutsche Jazzpublizist
Joachim Ernst Berendt schrieb: "Sie besitzt eine musikalische Auffassung,
die der instrumentalen Auffassung von Woody Hermans damaligen Solisten
entspricht, Serge Chaloff etwa oder Bill Harris." Später ergänzte
Berendt: "Sie ist vielleicht die einzige Sängerin des Song-Zweiges
(Anm.: Berendt ordnete seinerzeit Jazz-Sängerinnen entweder
dem ‚Instrumental'- oder dem ‚Song-Zweig' zu), die man im strengen Sinne
des Wortes als Cool-Jazz-Vokalistin bezeichnen könnte. Ihr Gesang
ist von der Art der weichen, weitgeschwungenen Trompeten-improvisationen
von Miles Davis und vom Klang der lyrischen Tenormelodien von Stan Getz".
Will Friedwald, ein ausgewiesener Experte für den Jazzgesang, meinte,
es gäbe nur wenige Beispiele für die gelungene musikalische Harmonie
zwischen Sängerin und Big Band. Dazu gehöre die Zusammenarbeit
von McCall mit den Orchestern von Woody Herman und Charlie Barnet. Mary
Ann McCall habe sich mit dem intelligenten und leicht verhangenen
Klang ihrer Stimme perfekt dem Big Band Sound dieser Orchester angepasst.
Treffen der Bandleader. Mit Charlie
Barnet feierte McCall ihre ersten Erfolge.
Als Big Band Sängerin bei
Dorsey, Barnet und Herman
Mary An McCall begann ihre Bühnenlaufbahn
als Tänzerin. Als sie in einem Club in Philadelphia mit der
dortigen Hausband, dem Orchester des Posaunisten Buddy Morrow, als Sängerin
arbeitete, begann ihre Vokalkarriere. 1938 arbeitete sie mit der Tommy
Dorsey Big Band und war für ebenfalls kurze Dauer bei der Teddy Powell
Big Band. Der heute nahezu unbekannte Powell hatte 1939 eine Orchester
aus Spitzenmusikern der Bands von Goodman, Dorsey und Glen Gray zusammengestellt.
1939 war McCall als Nachfolgerin von Lynne Stevens zum erstem Mal Sängerin
bei Woody Herman.
Hermann leitete damals sein erstes Orchester
"The Band That Plays The Blues". Mit dieser Band nahm McCall in der Zeit
vom 12. April bis 11. September 1939 insgesamt vier Titel für DECCA
auf: "Big Wig In The Wigwam", "Love Me", "Put That Down In Writing" und
"Can This Be Love?".
Dann sang sie bis 1940 sie bei Charlie Barnet.
Sie ist auf einigen der besten Aufnahmen dieser Band vertreten. Dazu zählen
die 1940 eingespielten Titel "Deed I Do", "Six Lessions From Madame
Le Zonga", "So Far, So Good" und "Where Was I". Ihr großer Hit mit
Barnet war das von Ralph Burns arrangierte "Happiness is a thing called
Joe". Als McCall bei Barnet ausschied, wurde Lena Horne ihre Nachfolgerin.
Mary Ann McCall zog nach San Diego. Sie war
bis Ende 1945 nur noch gelegentlich zu hören, bis sie 1946 mit Hermans
First Herd und dann ab 1947 mit seiner Second Herd sang. Woody Herman erinnert
sich: "Mary Ann sang damals, wie zuvor nie jemand gesungen hat und wie
auch nie wieder jemand singen wird. Sie müssen wissen, dass sie genau
genommen schon 1939 zum ersten Mal in
der Band war, und die erste Nummer, die sie
damals aufnahm, war "Big Wig In The Wigwam". Sie zählte damals gerade
sechzehn Lenze. (Anm.: Hier irrt Herman. Mc Call war zum Zeitpunkt der
Aufnahme 19 Jahre.) Das war sogar noch vor ihrer Zeit bei Barnet. Doch
als sie mit der Four Brothers Band sang, gewann sie den Down Beat-Poll,
und das hatte sie verdient. Wir engagierten sie erneut aufgrund einer Empfehlung
des Songpluggers Juggy Gale. Während ihres zweiten Engagements bei
uns machte sie viele Aufnahmen mit der Band. Dazu gehörten "I've Got
It Bad And That Ain't Good", "Detour Ahead", "Romance In The Dark" und
"Wrap Your Troubles In Dreams". Die Aufnahme dieses Titels beweist, dass
sie eine wirklich große Jazzsängerin war." Dieses erneute Engagement
begann im Januar 1948, nachdem das Herman-Orchester vier Tage lang im Edgewater
Beach Ballroom in San Francisco aufgetreten war. McCall ersetzte damals
die Bandsängerin Terry Swope. Zu ihren besten Aufnahmen, die sie 1948
mit Herman machte, zählen "Get Out Of Town" und "More Than You Know."
Der berümte Swing-Tempel in
Hollywood, der Palomar Ballroom.
Hier gastierte 1939 das Orchester
Charlie Barnet mit Mary Ann Mc Call.
Jitterbug 1939
1948 machte McCall Schallplattenaufnahmen mit
dem Trompeter Howard McGhee und dem Saxophonisten Dexter Gordon. Im Juni
und Dezember 1947 waren Aufnahmesitzungen für Columbia, 1948 für
Discovery und 1950 für Roost unter eigenem Namen vorausgegangen. Weitere
Platten spielte sie 1949 mit der damals neu formierten, Bebop-orientierten
Gramercy Five von Artie Shaw ein: "Nothin' For Nothin'" und "There Must
Be Somethin' Better Than Love". In dieser Gruppe wurde der Trompeter Don
Fagerquist als Solist besonders herausgestellt. 1954 entstanden weitere
Platten unter Mary Ann McCalls Namen.
1950 hatte Mary Ann McCall eine Solokarriere
gestartet und ging im Januar 1954 zu Charlie Ventura. Mit seiner Combo
nahm sie 1955 für Norman Granz das Album "An Evening with Mary Ann
McCall and Charlie Ventura" (Norgran MGN- 1053), das Kompositionen wie
"Detour Ahead" und "There'll Be Some Changes Made" enthält. Diese
Langspielplatte gehört heute auch deshalb zu den gesuchten Sammlerstücken,
weil deren Cover von dem Grafiker David Stone Martin stammt. Stone Martin
war ein Freund von Norman Granz. Er gestaltete für dessen Labels "Clef",
"Norgran" und "Verve" sehr viele Schallplattenalben.
Für das Label "Discovery" entstand ein
Big Band-Album mit dem Titel "Mary Ann McCall sings.
Plattencover von David Stone Martin
für eine Charlie Ventura - Mary Ann Mc Call-Platte auf "Norgran".
Der Fluch der Droge
Drogenkonsum hat von jeher den Jazz begleitet.
War in den zwanziger Jahren unter Musikern Marihuana die Modedroge, wurde
es während des Zweiten Weltkrieges das ungleich gefährlichere
Heroin. Ein großer Teil der Musikergeneration, die den Be Bop aus
der Taufe hob, darunter ihre Gallionsfigur Charlie Parker, verfiel dem
Rauschgift. Auch Mary Ann McCall wurde drogenabhängig und zog
sich 1955 bis in das Jahr 1956 hinein von der Musikszene zurück. Unter
den 16 Mitgliedern von Hermans "Four Brothers Band" befanden sich acht
Heroinabhängige, unter ihnen Trompeter Bernie Glow, die Saxophonisten
Zoot Sims, Stan Getz, Serge Chaloff und McCalls Ehemann Al Cohn. Wenn die
Herman-Band auf Tournee war, gab es im Bus zwei Abteilungen, die durch
einen Vorhang getrennt waren. In einem dieser Bereiche konnten die Abhängigen
ungestört Drogen konsumieren. Bandleader Woody Herman, der selbst
Alkoholiker war, sah keine Veranlassung, einzugreifen. Für ihn zählte
nur, ob seine Musiker auf der Bühne die geforderte Leistung ablieferten,
und das war der Fall. Die "Four Brothers Band" ist trotz des exzessiven
Drogenmissbrauchs vieler ihrer Musiker als eine der besten Big Bands aller
Zeiten in die Jazzgeschichte eingegangen.
Später meinte Mary Ann McCall: "Rauschgift
hilft dir nicht; es wirft dich nur aus der Bahn. Nimm es nicht! Nimm lieber
einen Revolver und schieß dich tot! 1950 war ich im Down Beat-, Metronome-
und Esquire-Poll zur besten Sängerin des Jahres gewählt worden.
Seht mich jetzt an! Ich hatte eine Achtzehnhundert-Dollar-Wohnung, sie
gehört mir nicht mehr. Ich habe in der Woche vier- bis fünfhundert
Dollar für das Zeug ausgegeben."
Mary Ann Mc Calls früherer
Musiker-Kollege bei Woody Herman und
Ehemann Al Cohn 1987 bei der Denver
Jazz Party.
V.l.n.r.: Herb Ellis (g), Buddy
de Franco (cl), Al Cohn (ts), Buddy Tate (ts).
Das Comeback
Nach ihrer Trennung von Al Cohn heiratete McCall
in zweiter Ehe einen Gewerkschaftsfunktionär und sang 1958-1960 in
lokalen Detroiter Clubs.
Im August 1956 entstand für das Label
Savoy eine LP (SJL -1178) mit einem All-Star-Oktett. Der von dem Arrangeur
der Aufnahmen, Ernie Wilkins, geleiteten Gruppe gehörten Joe Wilder,
George Barrow, Seldon Powell, Zoot Sims, Sal Moore, Nat Pierce, Wendell
Marshall und Kenny Clarke an. Diese Aufnahmen wurden im Mai 2001
unter dem Titel "Easy Living" auf einer CD (WEA/Savoy Jazz (No. 93016)
wiederveröffentlicht. Bei diesen Titeln wird deutlich, dass Mary Ann
McCall 1956 nicht mehr die überragende Jazzsängerin früherer
Jahre war. Trotz der erstklassigen Arrangements und der hervorragenden
Begleitmusiker wirkt ihr Gesang eher poppig als jazzmäßig.
Außerdem machte McCall 1956 Schallplattenaufnahmen
für Regent, 1958 für Jubilee und 1959 für das Coral-Label.
Das Album "Detour to the Moon" (JLP-1078)
für das Label Jubilee enthielt ausschließlich Kompositionen,
die das Wort "Moon" im Titel oder im Songtext enthielten. Die Aufnahmen
standen unter der Leitung von Teddy Charles, der zwei sehr unterschiedliche
Instrumentalbesetzungen einsetzte. Auf sechs der Titel, vorwiegend mit
Balladencharakter wurde McCall von Charles am Vibraphon und einer String-Besetzung
begleitet, die aus Viola, Cello, Bass und Gitarre bestand. Der Bratscher
dieser Session war der seinerzeit weltberühmte Walter Trampler. Cello
spielte Charles McCracken. Der Bassist war Duvivier. Für die restlichen
Stücke verwendete Charles, der auch hier am Vibraphon zu hören
ist, eine konventionellere Besetzung mit Mal Waldron am Klavier, Jimmy
Raney, Gitarre und Oscar Pettiford am Bass. Als Schlagzeuger waren Osie
Johnson und Jerry Siegel dabei. Kritiker Dave Nathan meint, McCall sei
zum Zeitpunkt dieser Aufnahmen auf ihrem künstlerischen Höhepunkt
gewesen.
Die 1959 für das Coral-Label entstandene
LP "Melancholy Baby" folgt in ihrer Programmstruktur der Vorgängerin
für Jubilee. Nunmehr enthalten fünf der insgesamt zwölf
aufgenommenen Titel das Wort "melancholy". Auch die anderen sieben aufgenommenen
Stücke sind Balladen. Die Besetzung der Begleitband ist erneut außergewöhnlich.
Johnny Richards arrangierte die Stücke für drei unterschiedliche
Besetzungen: Eine Rhythmusgruppe, eine Band mit acht Celli, Flöte
und Posaune und für eine um French Horn, Tuba, Basssaxophon und Tympani
erweiterte Big Band. Kritiker Scott Yanow schreibt, McCall sei bei diesen
Aufnahmen in sehr guter stimmlicher Verfassung gewesen und habe durch ihre
frische Interpretation den Texten etwas von ihrer Traurigkeit genommen.
Die Instrumentalsolisten auf dieser Platte sind John Collins (Trompete)
und Gene Quill (Altsaxophon).
Das Ende einer Karriere
Zu dieser Zeit war Mary Ann McCall erneut drogenabhängig
und für lange Dauer musikalisch inaktiv. 1976 kehrte sie auf die Musikszene
zurück und sang bei Jake Hanna. Mit ihm machte sie Plattenaufnahmen,
wie auch 1978 mit Nat Pierce. Der britische Kritiker Scott Yanow urteilt,
sie klinge auf diesen Platten fast so gut wie zu ihrer besten Zeit. Die
Pierce-Aufnahmen, die auf dem Label HEP als LP ("5400 North") erschienen,
entstanden bei einem Live-Konzert unter freiem Himmel. Neben Pierce,
der Klavier spielte, gehörten Dick Collins (Trompete), Bill Perkins
(Tenorsaxophon), Bob Saravia (Bass) und Frank Capp (Schlagzeug) dem Quintett
an. McCall ist unter anderen mit den Titeln "If I Had You" und ihrer Glanznummer
"Detour Ahead" zu hören.
Ihrem früheren Bandleader Woody Herman
blieb die Sängerin bis zu dessen Tod verbunden. Am 20. November 1976
feierte Herman sein 40jähriges Jubiläum als Bandleader mit einem
Konzert in der New Yorker Carnegie Hall. Das Orchester setzte sich aus
vielen ehemaligen Mitgliedern der "Herds" von Woody Herman zusammen und
Mary Ann McCall sang bei diesem Anlass "Wrap Your Troubles In Dreams".
Knapp elf Jahre später, am 29. Oktober 1987, starb Herman. Unter den
Trauergästen in der St. Victors Catholic Church in West Hollywood
befand sich neben vielen früheren Herman-Musikern auch Mary Ann McCall.
Sie verstarb am 14. Dezember 1994 im Alter
von 75 Jahren in Los Angeles.
Discographie:
Alben, die Mary Ann McCall unter eigenem Namen
aufnahm:
Mary Ann McCall sings
Discovery
1950
Easy Living
Savoy
1956
Detour To The Moon
Jubilee
1958
Melancholy Baby
Coral
1959
Als Vokalistin wirkt Mary Ann McCall auf folgenden
Alben mit:
Charlie Barnet "Make Believe Ballroom"
1936-41
Charlie Barnet
1935-44
Charlie Barnet "Cherokee"
1939-40
Charlie Barnet "Cherokee" (ASV/Living
Era)
Charlie Barnet "Swing and Sweet"
Woody Herman "Keeper Of The Flame"
1948
Woody Herman "Second Herd - 1948"
1948
Woody Herman "Heard With Friends"
Woody Herman "A Cool One"
1948
Woody Herman "Blowin' Up A Storm"
Woody Herman "1939"
1939
Woody Herman "Complete Capitol Recordings
Of…"
Woody Herman "Woody Herman Story"
Woody Herman "1939-40"
1939-40
Woody Herman "Four Brothers" (Drive)
Nat Pierce
" 5400 North"
1978
Charlie Ventura "An Evening with Mary
Ann McCall &
Charlie Ventura (Norgran)
1955
Various Artists "Okeh Jazz"
1946
Various Artists " Big Bands" (Musicdisc)
Various Artists "Jazz Best Orchestra"
Various Artists "Number 1 Greatest
Hits" |